01.04.2025 11:04
Hoch lebe das Palaver!
Das Wort Palaver wird in der heutigen Alltagssprache wohl in etwa so häufig gebraucht wie Kutsche oder Dampfmaschine. Doch während die Bedeutung vieler veralteter Begriffe noch heute zur Allgemeinbildung zählt, wissen wohl einige junge Jahrgänge nicht einmal mehr, was palavern überhaupt bedeutet. Höchste Zeit, diesbezüglich Abhilfe zu schaffen.
Romanshorn Seit rund 15 Jahren treffen sich einmal im Monat Männer im evangelischen Kirchgemeindehaus in Romanshorn zu einer speziellen Gesprächsrunde. «Männer-Palaver ist das lustvolle, freundschaftliche Gespräch über interessante Themen. Gemeinsam Fragen stellen und nach Antworten suchen, macht Spass und bereichert. Palavern!», heisst es vielsagend auf dem diesjährigen Programmflyer.
Letzten Mittwochabend, 19. März, war es wieder so weit: 14 Männer trafen sich im evangelischen Kirchgemeindehaus in Romanshorn, um gemeinsam bei einem Glas Wein über das Thema «Lesen noch zeitgemäss?» zu palavern. Eingeladen zum Palaver sind «alle Männer, unabhängig von Alter, Herkunft oder Religion». Eine Anmeldung braucht es nicht und auch unregelmässige Besucher sind willkommen. Da es im Kreise der aktuellen Männerrunde zwei Leseratten hatte, zeichneten diese sich für die Einführung ins Thema verantwortlich.
Armin machte dann ziemlich schnell klar, dass man in ihm einen erfahrenen Experten zum Thema mit von der Partie hatte: «Seit meinem ersten Buch habe ich alle von mir gelesenen Bücher aufgeschrieben. Bis heute waren dies 1975 Bücher.» Doch Armin führt nicht nur akribisch Buch über seine Belesenheit, sondern erinnert sich auch noch an unzählige Werke und Autoren sowie Gegebenheiten in den Geschichten. «Mein erstes Buch war Robinson Crusoe von Daniel Defoe. Ohne Robinson wär ich heute nicht hier», gibt Armin zu verstehen, der im Wallis aufgewachsen ist. Bücher hätten in ihm die Faszination für die grosse weite Welt geweckt. Ein Lehrer in der Primarschule, der ein hervorragender Märchenerzähler gewesen sei, habe dieses Feuer entfacht. Und da man zu Hause nicht einmal ein Radio hatte, seien Bücher ihre Medien geworden und bis heute geblieben: «Es geht nichts ohne Lesen.»
Armin, der anfangs 20 auch damit angefangen hatte, ernsthafte Literatur zu lesen, ist in seiner Materie. Er erzählt voller Leidenschaft von Büchern und speziellen Anekdoten zu diesen. Und er scheint eine menschgewordene Enzyklopädie der Literatur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu sein. Und Armin würde dieser Einschätzung wohl voll und ganz zustimmen, denn Bücher sind für ihn viel mehr als die praktische Sammlung von Papierseiten: «Diese Bücher haben mich bis heute in der Fantasie begleitet.»
Bruno, die zweite Leseratte in der Gruppe, kommt schnell auf das Buch zu sprechen, das seine Kindheit stark geprägt hat: «Die Höhlenbuben von Josef Hauser haben mir extrem Eindruck gemacht. So sehr, dass ich mit meinen Brüdern das Gelesene eins zu eins im Wald umgesetzt habe.» Er sei ein totaler Lesefreak, der von guten Büchern gefesselt werde. Eines von diesen sei «Die Erfahrung der Welt» von Nicolas Bouvier gewesen, wo Abenteuer mit Hilfe eines Fiat Topolinos erlebt wurden: «Ich kann mir schlichtweg nicht vorstellen, dass man dieses Buch nicht liest, wenn man es zur Hand hat.»
Andere Zeiten, andere Sitten
Als es dann richtig ans palavern ging, zeigte es sich schnell, dass viele ganz andere Erfahrungen mit dem Lesen gemacht hatten. Vor allem ein solch mitreissender Deutschlehrer, wie ihn Armin in seiner Kindheit im Wallis hatte, schien die Vorstellungskraft einiger Palaver-Teilnehmer zu übersteigen. «Wir hatten keine Bücher zu Hause, wir hatten anders zu tun», meint einer. «Es ist eine Katastrophe, dass Leute nicht mehr lesen», meinte ein anderer. «Es ist mir bis heute ein Graus, Bücher wegzuwerfen», meint noch ein anderer.
Heinz erzählte dann eine berührende Geschichte aus seiner Kindheit, die wohl ohne Bücher andere Spuren hinterlassen hätte. Denn da er nicht nur das jüngste Geschwister, sondern auch eher kränklich war, sei er beim gemeinsamen Jassen jeweils nicht berücksichtigt worden. Schnell habe er jedoch dank Bücher Gefallen daran gefunden: «Ich lag unter dem Tisch, habe den Hund umarmt und gelesen, während sie über mir gejasst haben.»
Die Vielfalt an unterschiedlichen Erfahrungen mit dem Lesen spiegelte sich auch in den unterschiedlichen Lesepräferenzen wider. Während einige informiert sein wollen und darum nur Zeitung lesen, dies aber ständig tun, suchen andere in Büchern vor allem Antworten auf politische und gesellschaftliche Fragen. Einige konnten sich auch für Hörbücher erwärmen und andere für moderne Lese-Apps. So zum Beispiel Urs, der von seinen Erfahrungen mit einer neuen Technologie erzählte:«Lesen hat heute eine andere Qualität. Mit der Libby-App zum Beispiel wird Lesen etwas Interaktives, da man Begriffe sofort nachschlagen und auch googeln kann.» Doch auch viele nachdenklich stimmende Geschichten wurden in der Runde geteilt. So erzählte Edi von einem kürzlichen Erlebnis in einem Skytrain in Bangkok: «Dort ist man heute ein Exote, wenn man ein Buch in der Hand hat.» Und er berichtete auch über seine erfolglosen Versuche, das Lesen der jungen Generation schmackhaft zu machen und bat die Runde um Rat: «Ich weiss nicht, wie man Junge heute zum Lesen motivieren kann. Vielleicht kann mir jemand von euch dabei helfen.»
Lasst uns mehr palavern
Und so verstrichen die eineinhalb Stunden am Mittwochabend wie im Fluge. Es gäbe noch ganz viel andere interessante Aspekte des Palavers zu erwähnen, doch würde dies den Rahmen einer Zeitung sprengen. Doch eins muss zum Schluss noch festgehalten werden: Der gesittete und der Horizonterweiterung dienende Austausch von verschiedenen interessanten Meinungen in der Runde ist ein Ritual, das definitiv mehr gepflegt werden sollte. Denn auch wenn palavern laut Definition nur «wortreiches, meist überflüssiges Gerede» zutage bringt, macht es in Tat und Wahrheit etwas extrem Wichtiges und Wertvolles: Es gewährt Einblick in die persönliche Geschichte und die persönlichen Erfahrungen von verschiedenen Menschen.
Um nochmals auf die anfangs gestellte Frage zu sprechen zu kommen: Der Moment, in dem Lesen nicht mehr zeitgemäss ist, wird es höchste Zeit, unsere gesellschaftlichen Gepflogenheiten zu überdenken. Denn Lesen ist unglaublich wertvoll, das wusste schon Goethe: «Wer Bücher liest, schaut in die Welt und nicht nur bis zum Zaune.»
Von David A. Giger