10.10.2024 07:00
Auf Schatzsuche in der Brocki
Nachhaltigkeit liegt im Trend. Dies dürfte einer der Gründe sein, wieso Brockenstuben vielerorts ihr etwas altbackenes und staubiges Image ablegen konnten und sich wachsender Beliebtheit erfreuen. Doch Gründe, um Brocki-Fan zu sein oder einer zu werden, gibt es noch viele andere.
Region Es gibt über ein Dutzend Brockenstuben im Oberthurgau und eines kann mit Sicherheit über alle gesagt werden: In garantiert jeder Brockenstube wartet ein Schatz darauf, von einem Schatzgräber entdeckt zu werden. Die Schätze in Brockenstuben haben teilweise einen tatsächlichen, materiellen Wert, sind Kostbarkeiten im wahren Sinne des Wortes. Doch viele Schätze erhalten ihren Wert auch durch die Geschichte, die sie erzählen. So zum Beispiel das neuste Kunstwerk in meiner eigenen Sammlung, ein«Haselmeier» aus dem Wicktrade Vintage Shop in Oberaach.
Wenn ich irgendwo eine Brockenstube sehe und es die Zeitverhältnisse erlauben, dann verleitet mich meine Neugier mit grosser Wahrscheinlichkeit zu einem Besuch. Ich bin fasziniert von Brockis, denn all die Dinge, die dort angeboten werden, haben schon ein Leben gelebt, sind also sozusagen schon etwas herumgekommen. Und wenn ich irgendetwas für den Haushalt oder Hausrat brauche, einen Bilderrahmen oder ein Möbel für einen bestimmten Ort, dann sind Brockenstuben immer meine erste Anlaufstelle. Denn viele Gegenstände in den Brockis sind einfach etwas verstaubt und in Vergessenheit geraten, haben aber extrem viel Substanz und sind oftmals qualitativ hochwertig. Was für Wunder man mit Schmirgelpapier und Lauge, Putzlappen und Seife, Pinsel und Farbe und vor allem Liebe, Fantasie und etwas Zeit bewirken kann, ist erstaunlich. Doch manchmal braucht es noch viel weniger, um die wahre Schönheit eines Brocki-Gegenstands hervorzubringen. Manchmal genügt das richtige Licht, vielleicht noch ein Rahmen, um aus einem Blatt Papier wieder ein Kunstwerk zu machen.
Sammelt die Brocken!
Brockenstuben, Brockenhäuser oder einfach Brockis gehören in unsere Dörfer und Städte wie die Kirchen. Obwohl es nicht offensichtlich ist, hören die Gemeinsamkeiten nicht dort auf, denn beide Institutionen haben einen religiösen Hintergrund. Der Name «Brockenhaus» sei einst entstanden, als Friedrich von Bodelschwingh, der Gründer der Bethlehemmission, Ende des 19. Jahrhunderts eine Sammel- und Verkaufsstelle für Gebrauchtwaren öffnete und diese aufgrund eines Bibelzitats Brockenhaus nannte, ist in einem Lexikoneintrag der NZZ zu lesen. «Sammelt die übrig gebliebenen Brocken, dass nichts verloren geht», lautet der Bibelspruch, der die Geburtsstunde des heutigen Brockenhauses läutete.
Somit scheint auch klar zu sein, woher der karitative Gedanke kommt, den viele von uns mit Brockenstuben verbinden. Wurden früher Brockenstuben fast ausschliesslich von wohltätigen Organisationen geführt, ist dies heute nicht mehr der Fall. Einige Brockenstuben sind heutzutage rein kommerziell geführte Secondhandläden. Und dies, obwohl die Definition des Wortes «Brockenhaus» im Duden diesen karitativen Charakter noch immer als Bedingung ausweist: «Stelle, die gebrauchten Hausrat o. Ä. entgegennimmt und zu wohltätigen Zwecken weiterverwendet oder -verkauft».
Doch auch heute gibt es noch viele dieser Brockenstuben im ursprünglichen Sinne. Nicht nur das Blaue Kreuz und verschiedene Frauenvereine lassen die karitative Tradition in ihren Brockis weiterleben, sondern auch viele privat geführte Unternehmen sehen die Verbindung von Nachhaltigkeits- und Wohltätigkeitsgedanken als Selbstverständlichkeit an.
Mein erster «Haselmeier»
Als ich während der Sommerferien Zeit für eine kleine Entdeckungstour in der Region hatte, besuchte ich das erste Mal den Wicktrade Vintage Shop im Schlösslipark in Oberaach. Vielleicht war es die Suche auf Google Maps, die mich dorthin führte, denn wer mit Begriffen wie «Rostbarkeiten und Staubjuwelen» im Beschrieb von sich redet, der hat meine Aufmerksamkeit auf sicher. Obwohl die von Christoph Wick geführte Brockenstube nicht wirklich gross ist, ist sie dennoch bis zur Decke vollgepackt. Und dies im wahrsten Sinne des Wortes, denn an der Decke hängen unzählige Lampen im Industrie-Design. Die meisten funktionieren wunderbar und sorgen dafür, dass die engen Gänge der Brocki trotzdem lichtdurchflutet sind. Denn Christoph Wick ist nicht nur Sammler, Liebhaber und Brockenstubenbetreiber, sondern auch Bastler und Restaurator, der insbesondere Lampen neues Licht schenkt.
Dem Lichtkegel einer solchen Lampe ist es zu verdanken, dass ich seit diesem Besuch stolzer Besitzer eines «Haselmeiers» bin. Denn als ich einen Stapel grossformatiger Poster im A2-Format entdeckte, musste ich natürlich schauen, was sich unter dem zuoberst liegenden, nicht sehr ansprechenden Druck einer Naturszene befand. Es dauerte nicht lange, bis ich auf meinen «Haselmeier» stiess, das Bild, das auf der ersten Seite abgebildet ist und jetzt eingerahmt in meinem Zuhause auf sein neues Plätzchen in meiner Stube wartet.
Selbstverständlich hatte ich im Moment der ersten Begegnung noch keine Ahnung, wer der Schöpfer dieses Werkes war. Ich war mir jedoch sehr sicher, dass das Kunstwerk mir unglaublich gefällt, obwohl es etwas vernachlässigt aussah und Papier nicht mein bevorzugtes Medium für Kunst ist. «Das ist ein Werk von Werner Haselmeier. Sein Sohn hat einmal ein paar Werke seines Vaters hier vorbeigebracht», erklärte mir Christoph Wick. Da mir der Name nichts sagte, das Bild aber schon, kaufte ich es, fand in der Brockenstube «La Brocante» in Bischofszell einen passenden Rahmen dazu und startete dann eine kurze Recherche im Internet. Während dieser fand ich nicht nur heraus, dass Werner Haselmeier leider schon seit dem Jahr 2006 verstorben ist, sondern auch, dass viele seiner Werke in seinem Atelier im alten Meule-Areal in Sommeri entstanden sind. Der Fundort meines Fundstücks war also wahrscheinlich gar nicht so weit von seinem Entstehungsort entfernt.
Da ich auf einer Webseite auch auf die E-Mail-Adresse seines Sohnes Till Schacher gestossen bin, kontaktierte ich ihn und erzählte ihm von meinem Fund und meiner Freude darüber. «Man kann Werner Haselmeier nun bald als einen Künstler bezeichnen, der langsam in Vergessenheit gerät. Seine Zeitgenossen sind schon pensioniert, es läuft eigentlich nichts mehr auf dem Kunstmarkt über ihn», schreibt dieser in einer Mail. Um zu verhindern, dass Werner Haselmeier und seine ganz eigenen, unglaublich kreativen und farbenfrohen Werke jetzt schon in Vergessenheit geraten, werde ich Till Schacher bald einmal Treffen und seinem Vater nicht nur eine Fussnote, sondern einen ausführlichen Bericht widmen. Denn wer weiss, was für schöne Werke Werner Haselmeier sonst noch geschaffen hat? Wer weiss, welche Botschaft seine Kunst vermitteln sollte? Ich hoffe, dass es sein Sohn tut und wir gemeinsam Werner Haselmeier aufleben lassen können, wie das Bild aus der Brockenstube. Und eines steht jetzt schon fest: Je mehr ich über den Schöpfer meines neuen Brocki-Schatzes erfahren werde, desto wertvoller wird mein «Haselmeier» für mich werden.
Von David A. Giger