10.03.2023 12:25
Der Reiter auf dem Bodensee
Was für eine spannende Geschichte sich vor ziemlich genau 60 Jahren im Oberthurgau zugetragen hat: Auf der Frontseite der Sonderausgabe des «Oberthurgauers» vom 7. März 1963 wird aus einer Legende Realität. «Der Reiter auf dem Bodensee» ist plötzlich nicht mehr nur Teil eines Gedichts, sondern fleischgewordener Mensch mit Haut und Haaren.
Bodensee Was sich im Winter des Jahrs 1963 auf dem Bodensee zugetragen hat, wird für uns jüngere Jahrgänge wohl nie wirklich greifbar sein. Denn ein zugefrorener Bodensee, eine «Seegfrörni», gehört in Zeiten der Klimaerwärmung schon in die Welt der Fabeln. War der Bodensee seit dem 13. Jahrhundert während mindestens neun Wintern zugefroren – dies sei in den Jahren 1277, 1435, 1560, 1573, 1587, 1695, 1788 und 1830 der Fall gewesen – wird wohl die «Seegfrörni» von 1963 für lange Zeit die letzte gewesen sein.
Dass sich die «Seegfrörni» dieses Jahr zum 60. Mal jährt, dürfte den meisten bekannt sein. Dass jedoch vor genau 60 Jahren und zwei Tagen die Geschichte vom «Reiter auf dem Bodensee» publik wurde, wussten viele wohl nicht. Auch ich wusste dies nicht, bis ich vor einigen Wochen das «Kunstwerk» in den Räumlichkeiten der Redaktion in Rorschach entdeckte. Die Titelseite des «Oberthurgauers» vom 7. März 1963 war eingerahmt und aufgehängt in der dunkelsten Ecke des Empfangraums und wartete nur darauf, wieder ans Licht zu kommen.
Auf ebendieser Titelseite steht auch geschrieben, dass Edwin Lengweiler die Motivation, Geschichte zu schreiben, ebenfalls aus dem «Oberthurgauer» zog. Denn in der Ausgabe vom 8. Februar desselben Jahres sei das Gedicht «Der Reiter und der Bodensee» von Gustav Schwab abgedruckt gewesen: «Beim Durchlesen der sagenhaften Zeilen fasste Herr Lengweiler, wie er uns gestern gestand, den Entschluss, sobald es die Eisverhältnisse gestatten, über den See zu reiten.»
Und auch für die Risikominimierung war dazumal noch die Zeitung zuständig. Denn auf Wunsch von Edwin Lengweiler kontaktierte «Der Oberthurgauer» den Hydrologen Röthlisberger. «Dieser ausgewiesene Fachmann, der sowohl im Zürich- wie im Bodensee Messungen des Eises durchführte, äusserte im Prinzip keine Bedenken, wenngleich er betonte, dass der Reitersmann natürlich die Verantwortung für das wagemutige Vorhaben selbst übernehme», wird die Einschätzung des ETH-Professors in der Zeitung wiedergegeben. Auch riet er ihm davon ab, auf dem See zu galoppieren und empfahl im dringendst zum Anbringen von spitzen Stollen, «um die Gefahr des Ausgleitens des Pferdes auf ein Minimum zu reduzieren.»
Ein Spektakel sondergleichen
Am 6. März um 11.30 Uhr war es dann schliesslich so weit: Edwin Lengweiler brach auf seinem Eidgenoss «Holsatia» vom Wäscheplatz aus in Richtung Langenargen auf. Gefolgt von fünf Begleitern und einer Begleiterin – seiner Frau Nelly Lengweiler auf einem Moped. «Es wäre lediglich noch zu vermerken, dass der Reiter absolut keine Nervosität zeigte. Das Pferd stellte während der ersten 500 Meter die Ohren. Aber die brave 'Holsatia', mit der Herr Lengweiler in der vergangenen Saison 30 Preise herausgeritten hatte, gewöhnte sich erstaunlich rasch an die Eisfläche», steht im Zeitungsbericht geschrieben.
Die Redaktion des Oberthurgauers war es dann auch, welche die Gemeinde Langenargen über den baldigen Besuch informierte: «Der Amtsmann war bass erstaunt, als wir ihm mitteilten, dass ein Arboner hoch zu Pferd bereits auf dem Weg über das Eis sei...» Die Information verbreitete sich in Langenargen wie ein Lauffeuer, so dass bei der Ankunft von Edwin Lengweiler gegen 1000 Personen am anderen Ufer des Bodensees auf ihn warteten: «Langenargen war erreicht und der gefrorene Bodensee überquert! Vize-Bürgermeister Rossknecht nahm den Gast in Empfang und verabreichte ihm gleich einen Schluck Cognac. Prost Reiter! In einem wahren Triumphzug wurden Reiter und Pferd zum 'Löwen' geleitet, in dessen Nähe für das Pferd der Stall bereits hergerichtet war.»
Im Löwen kamen dann Edwin Lengweiler und seine Begleiter in den Genuss einer Festtafel. Und zwar einer wahrhaftigen, wie es im Artikel heisst: «Aus verschiedenen sicheren Quellen kam uns zu Ohren, dass sich die Langenargener nicht lumpen liessen, ganz im Gegenteil! Bei Speis und Trank wurde das historische Ereignis gebührend gefeiert.»
Ein Gedicht steht am Ursprung der Geschichte
Am Anfang dieses grossen Spektakels stehen 31 Strophen mit je zwei Versen. Denn im bekannten Gedicht von Gustav Schwab gelang es das erste Mal einem Reiter, den gefrorenen Bodensee zu überqueren. Der Reiter tat dies jedoch nicht bewusst, sondern hielt den gefrorenen See im tiefen Winter für eine baumlose, unbebaute Ebene. Erst eine Magd machte ihn auf die Täuschung aufmerksam:
Der Fremde schaudert, er atmet schwer:
«Dort hinten die Eb’ne, die ritt ich her!»
Da recket die Magd die Arm in die Höh’:
«Herr Gott! so rittest du über den See!»
Und als dem Reiter schliesslich bewusst wurde, was dies bedeutet, setzt sich der Lauf der Dinge fort:
Der Reiter erstarret auf seinem Pferd,
Er hat nur das erste Wort gehört.
Es stocket sein Herz, es sträubt sich sein Haar,
Dicht hinter ihm grinset noch die Gefahr.
Es sieht sein Blick nur den grässlichen Schlund,
Im Geist versinkt er im schwarzen Grund.
Im Ohr ihm donnerts, wie krachend Eis,
Wie die Well’ umrieselt ihn kalter Schweiss.
Da seufzt er, da sinkt er vom Ross herab,
Da ward ihm am Ufer ein – trocken Grab.
Zwei Reiter, zwei Schicksale
Das Gedicht von Gustav Schwab war so bekannt, dass die Redewendung «einen Ritt über den Bodensee machen» in deutschsprachigen Ländern Teil der Alltagssprache wurde und für eine kühne, unbewusst vollzogene Handlung steht.
Nicht nur in diesem Punkt unterscheiden sich die beiden Reiter auf dem Bodensee, sondern auch in Bezug auf das Nachspiel. Denn während der Held im Gedicht vor Schreck das Bewusstsein verliert und tot vom Pferd fiel, lebte Edwin Lengweiler bis ins hohe Alter. Und so konnte er bis vor drei Jahren eine Geschichte mit seinen Mitmenschen teilen, die so einzigartig war, wie der Ritt über das Eis an sich. Denn wer kann sonst schon von sich sagen, dass er der fleischgewordene Held einer Sage ist?
Von David A. Giger