26.05.2023 06:36
Mehr «Bloscht» als «Bluescht»
Im Frühling zeigt sich der Oberthurgau von seiner schönsten Seite. Dass dieseSeite diesen Frühling für einmal viel weniger beeindruckend war als gewohnt, ist vor allem dem Wetter zu verdanken. Denn bei so viel Regen wissen selbst die Obstbäume nicht mehr, wie und wann sie zu blühen haben.
Oberthurgau Der eigentliche Plan für diesen Artikel wäre eigentlich ein ganz anderer gewesen: Die Wanderung mit dem Namen «Madame Bluescht» von Sulgen entlang vieler Obstanlagen nach Amriswil sollte die Grundlage für einen Bericht mit vielen Fotos bilden. Da dieses Angebot von Thurgau Tourismus sprichwörtlich ins Wasser fiel, aber das Thema «Bluescht» auch sonst viel hergibt und ein grosses, ungenutztes Potenzial in sich birgt, soll das spezielle Naturspektakel nun von verschiedenen Seiten beleuchtet werden.
Die heutige Geschichte nahm am Mittwoch, 19. April, ihren Anfang: Auf der Webseite von Thurgau Tourismus (thurgau-bodensee.ch) war unter der Sparte «Blütenpracht am Schweizer Bodensee» ein Hinweis zu finden, wie man Informationen über den aktuellen Blütenstand erhalten kann. Hierfür solle man sich mit «Madame Bluescht» in Verbindung setzen, da diese jeweils topinformiert sei.
Deshalb wählte der Autor dieser Zeilen an besagtem Tag die Nummer 071 531 01 30, ohne viel zu überlegen. Einzig die Frage, was wohl auf dem «Bändchen» zu hören sei, beschäftigte ihn ein wenig. «Madame Bluescht», sagte nach kurzem Klingeln eine Damenstimme am anderen Ende der Leitung. Da keine weiteren Worte folgten, war ziemlich schnell klar, dass hier nicht etwa ein Anrufbeantworter am Werk war, sondern ein Mensch. Und nicht irgendein Mensch, sondern «Madame Bluescht» höchstpersönlich. «Wenn ich nicht gerade auf der Apfelplantage bin, dann beantworte ich das Telefon natürlich selbst», sagt diese in einer Selbstverständlichkeit.
Marketing vom Feinsten
In einem längeren Gespräch über Blüten, Obst und die Region schenkte «Madame Bluescht» dem Anrufer viele interessante Einblicke und Informationen. Und auch die Überraschung, die am Anfang des Anrufes herrschte, sei keinesfalls ungewöhnlich, versicherte sie: «Es gibt viele Leute, die sofort wieder auflegen, wenn sie mich hören.»
An anderen Tagen habe sie dafür kaum Zeit für ihr Obst, da das Telefon ständig klingle. So geschehen sei dies erst vor ein paar Tagen, als in einer der grossen Sonntagszeitungen ein Artikel über die «Bluescht» drin war. Doch der Einsatz lohne sich, denn schaffen es so manchmal auch selten gesehene Gäste in die Region, erklärt sie: «Wann kommen sonst schon Zürcher in den Thurgau? – 'Madame Bluescht' schafft sogar das!»
Doch «Madame Bluescht» war mehr als eine charmante, interessante Gesprächspartnerin, sondern hatte auch die aktuellen Informationen über den Blütenstand parat: «Die ersten Birnbäume sind jetzt schon in Blüte, doch für die Apfelbäume sind die Nächte noch zu kalt. Ich würde meinen, dass die 'Bluescht' aber in rund einer Woche auch dort anfangen wird – die Knospen der Bäume sind schon bereit.»
Vorbild Japan
In Japan schafften sie es, aus etwas Ähnlichem wie der «Bluescht» ein Weltereignis zu machen: Sakura. Das Wort «Sakura» heisst grundsätzlich nur «Kirschblüte», doch ist es zu einem der bekanntesten japanischen Worte ausserhalb Japans überhaupt geworden. Sakura erfreut sich weltweit solcher Beliebtheit, dass es die japanische Kultur schlechthin symbolisiert.
Die Kirschblüte markiert in Japan nicht nur das Ende des Winters und den Anfang des Frühlings, sondern half den Bauern früher auch bei der Planung der eigenen Ernte. Und auch das neue Schuljahr beginnt in Japan jeweils im April. Deshalb wird es dort oft mit Glück und Hoffnung in Verbindung gebracht.
Doch die Kirschblüte hat auch noch eine tiefere Bedeutung. Denn weil das ganze Spektakel nur rund 10 Tage dauert, symbolisiert Sakura auch die Vergänglichkeit des Lebens, die Sterblichkeit. Das Leben ist kurz und wertvoll, die Blüte ein winziger, wiederkehrender Teil davon.
In Japan gibt es sogar ein eigenes Festival, das immer während der Kirschblüte stattfindet: «Hanami», das aus «Hana» für Blume und «mi» für schauen zusammengesetzt ist. Dieses Festival wird als «Picknick unter den blühenden Bäumen» beschrieben. Wie verschiedene Fotos des Fests zeigen, werden die Kirschbäume teilweise sogar mit Lampen beleuchtet, so dass das Blütenkleid auch zu später Stunde bewundert werden kann. Die Szenerie auf einigen Bildern sieht so romantisch und idyllisch aus, dass sie fast schon wieder kitschig wirkt. Wäre wohl ein Picknick unter den blühenden Obstbäumen auch hier im Oberthurgau möglich?
Wohl nur bedingt. Denn wer bei uns diesen Frühling nur schon Obstbäume in der Blüte fotografieren wollte, der wurde gleich mit drei Problemen konfrontiert: Dem Wetter, dem hohen Gras und dem «Matsch». Doch wem ein Picknick bei Regen und Wind, die Konsequenzen einer plattgetretenen Wiese und Schuhe voll Dreck nichts ausmachen, der wird auch bei uns ein unvergessliches «Hanami» feiern können.
Obwohl es bei uns einiges schwieriger ist, die Blütenpracht zu geniessen, haben wir den Japanern doch etwas voraus: Denn während die japanischen Blütenkirschen reine Zierbäume sind und keine Früchte produzieren, ernten wir ein paar Monate später das geschmacklich wohl beste Obst auf der ganzen Welt.
Die Natur bestimmt denZeitplan der «Bluescht»
Leider fiel die vom Autor geplante Wanderung von Sulgen entlang von verschiedenen Obstplantagen nach Amriswil, die den Namen von «Madame Bluescht» trägt, dem schlechten Wetter zum Opfer. Doch die Expertin weiss, dass so Jahre wie dieses immer wieder einmal vorkommen können. Denn im letzten Beitrag von «Madame Bluescht» vom 16. Mai steht auf ihrer Webseite geschrieben: «Aber Achtung: Das Naturspektakel hält sich nicht immer an seinen Terminplan. Daher werde ich hier ab März wieder über den Blütenstand informieren.»
Von David A. Giger